Wir kommen mit nichts, wir gehen mit nichts

Sie öffnet überstellte Badzimmerschränke, geht Jahrzehnte alte Rechnungen durch und kategorisiert volle Säcke und Kisten. Sobald ein Einsatz abgeschlossen ist, verlässt sie ein völlig anderes Zuhause als sie es zu Beginn vorfindet. Sie hilft Menschen dabei, ein leichteres Leben zu führen. Dieser Beruf wird in der Schweiz und Europa nur von wenigen Privatleuten ausgebildet. Selim Tolga ist einer davon. Über sechs online Sessionen hinweg wird Maria Fries zu einem Aufräum- und Minimalismus-Coach.

Als Aufräumcoach leistet sie Widerstand gegen den heutigen Konsumwahn. «Es sind alle geil auf Geiz», äussert sie auf die Frage, was Konsumwahn ist, «wir werden mit einer grossen Menge von Werbungen täglich zugeballert. Das verleitet zum Kauf von unnötigen Gegenständen.»
Maria muss ihre Kundschaft spüren. Sie findet, die Feinfühligkeit hat sie von Natur aus. Diese Fähigkeit vereinfacht ihr die Arbeit. Ausmisten ist emotional, weil das Loslassen von Gegenständen ein Prozess ist. Um der Ursache auf den Grund zu gehen, wieso es schwierig für den*die Klient*in ist, dieses Objekt wegzugeben, muss Maria die richtigen Fragen stellen. «Ich bohre manchmal richtig nach, damit der*die Kund*in selbst auf die Antwort kommt», zwinkert sie. Sie arbeitet auch mit Personen, die psychische Schwierigkeiten haben wie Depression oder Trauer. Für die psychische Gesundheit ist es wichtig, ein aufgeräumtes Leben zu führen.

Im Voraus telefoniert Maria mit den Kundinnen um den Umfang des Auftrags zu besprechen. Eine Voraussetzung, die sie stellt, ist die gegenseitige Sympathie. Maria arbeitet mit der 4M-Methode, die von Selim Tolga entwickelt wurde. Als erstes ist das Mindset. Dort werden die Kernwerte des*der Kund*in in einem Satz festgelegt. Zum Beispiel, in meinem Zuhause herrscht Ordnung, was mir ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit gibt und durch das, lebe ich nachhaltig, verdeutlicht sie. In diesem ersten M geht es um die Visualisierung. Wie soll mein Zuhause schlussendlich aussehen? Daraufhin wird gemeinsam entschieden, mit welchem Zimmer begonnen wird.

Am einfachsten ist es mit physischen Sachen ohne emotionale Bindung zu starten. Physische Sachen mit emotionaler Bindung sind schwerer auszusortieren. Wenn erwünscht, werden nicht physische Sachen, wie Termine oder Digitales ausgemistet. Zusätzlich können soziale Kontakte bereinigt werden, schmunzelt sie. Der zweite Schritt zu einem geordneten Zuhause ist das Methodisieren. Dort werden «Parkplätze» für alle Dinge gefunden. Der vorhandene Raum soll genutzt werden. Das dritte M ist das Meistern. Maria gibt den Kund*innen Werkzeuge, damit das Durcheinander nicht wieder zurückkommt. Ein essenzielles «Werkzeug» ist, Nein zu einem Kauf, einem Termin und einer Verpflichtung zu sagen.
Es gibt verschiedene Minimalismusgesetze die angewendet werden, zum Beispiel, OHIO – only handle it once. Dabei wird alles erledigt, was nur fünf Minuten dauert. Das ist das vierte M.

Wie es sich anfühlt bei Menschen zuhause auszumisten, seufzt sie zufrieden: «Leicht. Es ist befreiend, auch wenn es nicht mein eigenes Zuhause ist. Ich selbst, spüre wie den Kund*innen eine Last von den Schultern genommen wird», stellt sie fest.

Maria priorisiert schon immer Ordnung. Sie erkennt, dass konsumieren von materiellen Dingen, wie shoppen, nur ein kurzfristiges Glücksgefühl auslöst und nicht eine tiefe Zufriedenheit. Zwei Erlebnisse bestätigen ihr das Gefühl. Ihr Sohn ist muskelkrank und benötig volle Betreuung und Pflege. Da ist es eine Erleichterung, wenn alle Utensilien einen Platz haben und griffbereit sind. Das zweite ist nach dem Tod ihres Mannes. Ein grosser Teil seines Eigentums wird weggeworfen. Alles, was ihm gehört, hat schlussendlich keine Bedeutung.
Im nächsten Jahr wird sie ihre Abschlussarbeit über eine Kundin, der das Chaos über den Kopf gewachsen ist, schreiben. Die Kundin schämt sich, Freunde nachhause einzuladen. Nach der Arbeit verkriecht sie sich und «hangt» nur auf dem Sofa. Ihre Wohnung soll eine «Wohlfühloase» werden. Sie äussert mit einem Lächeln: « Ich hoffe fest, dass das Ausmisten, verloren gegangene Energie freisetzt und sie endlich wieder ein soziales Leben führen kann.»

Die zweifache Mutter sieht grosses Potenzial im Beruf Aufräum- und Minimalismuscoach. Sie spürt, wie Menschen Ordnung in ihrem Leben wollen. Um ihrer Karriere einen Anstoss zu geben, wird sie eine Ausbildung zum Coach machen. Somit kann sie bei Fachpersonen, wie Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen, weiterempfohlen werden und eine gezieltere Kundschaft erreichen.
Auf dieser Reise ist für sie, wir kommen mit nichts, die wertvollste Erkenntnis wir gehen mit nichts. Der zertifizierte Minimalismuscoach gibt den Rat, den Wert von materiellen Sachen nicht so bedeutsam zu machen.

One comment

Leave a Reply

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert